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Sonntag, den 24. November 2013

Melanolia

Abgelegt unter: In eigener Sae,Kaleidoſcop — Schlagwörter: , , , , , — Hausherr @ 3:47 Uhr

Dieter Hildebrandt ist tot. Gesteuert von den reaktionärsten Kreisen des Finanz- und Monopolkapitals, insbesondere in den USA, erstrahlt der Ku’damm prompt im Feiertagsglanz. Für Schreie zu leer und zu müde finde ich es schön – das Licht. Sein leichter und warmer Widerschein im Nebel knapp über den Dächern dieser Straße. Ist das Hochnebel? Es gibt wenige Orte, an denen mir der damalige Ausruf „Nie wieder Sozialismus!“ so wahr und richtig im Herzen ist wie jetzt und hier: Berlin, Kurfürstendamm, Ende November, abends. Inwiefern hat das mit Hildebrandt zu tun? Ich weiß es nicht. Er war halt ein Linker. Und er fände die Eigenwerbung des Kapitals am Ku’damm wahrscheinlich ähnlich seufzend schön.
 


Hineingeführt in diese Stimmung, um die meine Worte herumstochern und die mich jeden November neu heimsucht, stets neu überfallartig heimsucht, auf die ich mich nicht vorbereiten kann, hat mich diesjährig Lothar Struck. Es ist sein bester Artikel seit Jahren. Es wird ihn wohl kränken, wenn er eine solche Behauptung von mir liest. Sei es drum. Seine mir gelegentlich überzogen scheinende Aversion dem Tabakrauch gegenüber ist mir nun nachvollziehbarer. Dieser Artikel von ihm erschien acht Tage vor der Jährung des Todestages meiner Mutter und holte jene Wochen des Jahres 1995 um diesen Tag brutal in meine Gegenwart zurück.

Das Hotel Bogota schließt, Schlüterstraße 45, beste Lage nur hundert Meter vom Ku’damm entfernt, ein Juwel, wie man es nur in Westberlin und dann erst wieder in Paris oder Italien findet. Berliner (Kunst)Geschichte und Lebensart zwischen knarzenden Dielen, Stuck in meist großzügigen Räumen der vorletzten Jahrhundertwende, die von Fluren abgehen, die sich nirgends anders als in Berlin finden lassen, schmal und sich schier endlos lang windend, zwischen Lampen des Art déco und des nachgeäfften Art déco der Fünfziger, zwischen Furnier der Siebziger hinter wilheminischen Vorkriegsschreibtischen und -sekretären, garniert mit Plüsch der Achtziger, und zwischen Spiegeln, unfaßbar schönen Spiegeln. Man meint, die Cigarren der Zwanziger zu riechen, wie sie noch immer aus den Fugen und Rissen im Holz ausdünsten.

Und da ist ein Lesekabinett, inzwischen leider ohne Aschenbecher.

Yva (Else Ernestine Neuländer-Simon), eine recht bekannte und vor allem zu Lebzeiten zwischenzeitlich auch erfolgreiche Photographin, lebte hier. Helmut Newton hatte seine Lehrjahre bei ihr. In der vierten und fünften Etage waren ihre Wohnung und Atelier. Zur Zeit sind einige Arbeiten von ihr in den dortigen Gemeinschaftsräumen und Fluren ausgestellt – leider als Digiprints, was besonders schmerzt, wenn man noch gute analoge Photoarbeiten kennt. Und dennoch springt einem bei einigen Arbeiten die auch dieses Hindernis überwindende und um so überraschendere Lebendigkeit in das Gesicht – heutig, zeitlos.
Ich will mich in den Gedanken retten, daß sie auch ohne ihre Ermordung durch die Nazis inzwischen tot wäre, und scheitere kläglich.

Die Unabänderlichkeit weist zur Unerträglichkeit. Nie wieder Nazismus!

1 Kommentar »

  1. Pingback von »Grindelwald« als Buch | Begleitschreiben — Donnerstag, den 27. Februar 2014 @ 7:32 Uhr

    […] gab einiges an Lob, obwohl ich kein Schriftsteller bin (und es auch niemals sein werde). Dabei hatte ich noch im […]

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